Erst gewöhnungsbedürftig wegen des Designs und seiner Größe – der Mercedes-Benz 190, schnell „Baby-Benz“ genannt. Am 8. Dezember 1982 erweiterte Mercedes-Benz seine Modellpalette um die Baureihe 201 unterhalb der oberen Mittel- und der Oberklasse. Das damalige Einstiegsmodell der Marke gehört nach wie vor zum Straßenbild. Zum Start gab es zwei brave Benziner zur Wahl und am Ende eine komplette Palette und der sportliche Sechzehnventiler 190 E 2.3-16 mit Erfolgen in der Deutschen Tourenwagen-Meisterschaft (DTM).
Über Jahrzehnte gehören Mercedes-Benz Personenwagen nur der Oberklasse und der oberen Mittelklasse an. Das ändert sich Ende 1982 mit den Typen 190 und 190 E. Diese Portfolioausweitung der Marke ist damals keineswegs selbstverständlich. Denn über eine kompaktere Baureihe wird seit 1974 diskutiert, als Entwicklungsvorstand Professor Hans Scherenberg nach dem Ende der Ölkrise die Eckpunkte für einen Mercedes-Benz Personenwagen unterhalb der Mittelklasse festlegt: „Hierbei muss es sich um einen typischen Mercedes-Benz handeln. Wir können also an Fahrkultur, der Sicherheit und den entsprechenden Mercedes-Benz Eigenschaften nicht zu viele Abstriche machen.“
Wie erfolgreich Mercedes-Benz diese Ansprüche umsetzt, wird bei der Vorstellung in den Niederlassungen und bei den Vertragspartnern am 8. Dezember 1982 deutlich: Die kompakte und handliche Limousine vermittelt Fahrfreude, die Sitzpositionen von Fahrer wie Beifahrer sind ebenso gut wie in den größeren Mercedes-Benz Fahrzeugen, auch Straßenlage, Fahrkomfort, Qualität, Zuverlässigkeit und Langlebigkeit fallen nicht gegen die Großen ab.
Die Verwirklichung des Projekts wird am 19. Oktober 1978 beschlossen. Damals legt der Unternehmensvorstand fest, dass der 190 kleiner, leichter und sparsamer sein soll als die bekannte Mittelklassebaureihe 123. Gegenüber diesen Fahrzeugen werden diese Maße festgelegt: Gesamtlänge 4.420 Millimeter (minus 305 Millimeter), Breite 1.678 Millimeter (minus 108 Millimeter), Höhe 1.383 Millimeter (minus 55 Millimeter). Das Gewicht des Typs 190 sinkt gegenüber dem Typ 200 um 280 Kilogramm auf 1.080 Kilogramm.
Den Serienanlauf erlebt der W 201 in Sindelfingen, bevor die Produktion auch im Mercedes-Benz-Werk Bremen beginnt, das 1978 aus dem dortigen Borgward-Werk hervorgeht. An dem Standort entsteht eigens für die Baureihe 201 das Nordwerk Im Holter Feld. Es gilt seinerzeit als modernste Fahrzeugproduktion der Welt. Erstmals in der Branche werden beispielsweise die Achsen automatisiert eingebaut. Rund 1,4 Milliarden DM hatte die damalige Daimler-Benz AG in das neue Werk investiert, die bis dahin größte Einzelinvestition in der Unternehmensgeschichte.
Die Produktion beginnt im September 1982 mit Rohbaukomponenten, die zunächst noch ins Montagewerk Sindelfingen geliefert werden. Mit der Inbetriebnahme der Lackierung und der Montage im Jahr 1984 startet der Bau von Gesamtfahrzeugen. Der große Erfolg der Kompaktklasse sorgt dafür, dass Kapazitäten und Arbeitsplätze im Werk Bremen kontinuierlich erweitert werden. Insgesamt werden bis August 1993 an der Weser rund eine Million 190er gebaut. Bis heute ist Bremen das weltweite Lead-Werk für die C-Klasse.
Ein wichtiges Argument für den kleinen Mercedes-Benz liefert der US-amerikanische Kongress 1975 mit der weiteren Verschärfung des 1970 eingeführten „Clean Air Acts“. Die Novellierung verlangt, dass der Flottenverbrauch eines Herstellers ab dem Modelljahr 1985 maximal umgerechnet 8,3 Liter pro 100 Kilometer betragen darf. Ein kompakter Mercedes-Benz kann im wichtigen Exportmarkt USA entscheidend dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen – unter anderem auch mit einer ausgefeilten Aerodynamik. Tatsächlich hat die Baureihe 201 bei ihrer Markteinführung 1982 mit 0,34 den besten Strömungswiderstandskoeffizienten aller Mercedes-Benz Limousinen.
Der Leichtbau der neuen Kompaktklasse soll keinesfalls auf Kosten der aktiven und der passiven Sicherheit erzielt werden. Die Karosserie des W 201 wird in manchen Bereichen sogar zum Vorbild weiterer Mercedes-Benz Baureihen. Dazu gehört die Dachkonstruktion mit nach außen gelegten Dachlängsträgern. Erstmals wird eine Gabelträgerstruktur aus hochfesten Blechen eingeführt, deren extreme Steifigkeit eine definierte Verformung bei Crashs bietet und zudem zu einer Gewichtsverminderung um acht Kilogramm führt. Wegweisend beim Fahrwerk ist vor allem die Hinterachskonstruktion. Diese Raumlenker-Hinterachse trägt ihren Namen, weil fünf in genau festgelegter Position zueinander im Raum angeordnete Lenker jedes Hinterrad einzeln führen. Spur, Sturz, Spurweitenänderung, Anfahr- und Bremsnickabstützung können unabhängig voneinander festgelegt werden. Diese kontrollierte Radführung gleicht die Seiten- und Längskräfte in allen Fahrzuständen weitgehend aus. Vorn arbeitet eine an einzelnen Dreiecksquerlenkern geführte Dämpferbein-Vorderachse mit Bremsnickabstützung. Die garantiert guten Geradeauslauf und schafft mit geringer Bauhöhe Platz unter der Motorhaube.
Das klare Design der Baureihe W 201 entsteht unter der Ägide von Chefdesigner Bruno Sacco und wird maßgeblich von Peter Pfeiffer beeinflusst. Pfeiffers Maxime: „Auch ein Baby-Benz muss wie ein Mercedes-Benz aussehen, aber nicht wie eine verkleinerte S-Klasse.“ Im Rückblick erklärt der Designer: „Dieser Mercedes-Benz sieht auch nach 40 Jahren nicht aus wie ein Oldtimer. Das Fahrzeug mit seinem Design steht auch heute noch wunderbar auf der Straße.“ Das sehen Klassiker-Liebhaber genauso: Seit Jahren steigen die Preise für gut gepflegte Fahrzeuge der Baureihe.
Die Vergaservariante des ersten 190 im Jahr 1982 leistet 66 kW (90 PS), der mit einer Benzineinspritzung ausgerüstete 190 E 90 kW (122 PS). Danach wird die Motorenpalette kontinuierlich erweitert. 1983 erscheint der 190 D (53 kW/72 PS), der „Flüsterdiesel“ mit schalldämmender Triebwerkskapselung. Die Reihe der erfolgreichen Sechzehnventiler beginnt 1984 mit dem 190 E 2.3-16 (136 kW/185 PS), der 1988 durch den 190 E 2.5-16 (143 kW/195 PS) abgelöst wird. Für Einsätze im Motorsport entstehen 1989 und 1990 die Homologationsmodelle 190 E 2.5-16 Evolution sowie 190 E 2.5-16 Evolution II. Im letzten Produktionsjahr 1992 stellt Mercedes-Benz die Avantgarde-Ausführungen von 190 E 1.8, 190 E 2.3 und 190 D 2.5 als Sondermodelle vor.
Der 190 E 2.3-16 stellt 1983 in Nardò in Süditalien drei Weltrekorde auf. 1985 wird er für den Motorsport zugelassen (homologiert) und zuerst in der Französischen Tourenwagen-Meisterschaft eingesetzt. In der Deutschen Tourenwagen-Meisterschaft (DTM) wird Volker Weidler 1986 mit einem technisch von AMG unterstützten 190 E 2.3-16 Vizemeister der Fahrerwertung.
1988 beschließt Mercedes-Benz die Rückkehr in den Motorsport, ab 1991 bündelt der neue Mercedes-Benz Motorsportchef Norbert Haug die Rennentwicklung des 190 E 2.5-16 EVO II bei AMG. Nach Siegen in den Vorjahren belegt der EVO II in der DTM 1992 mit Klaus Ludwig, Kurt Thiim und Bernd Schneider die ersten drei Plätze, Mercedes-Benz verteidigt dazu den Sieg in der Markenwertung. 1993 wird Roland Asch mit dem 190 E „Klasse 1“ zum zweiten Mal Vizemeister. Der Konzern hat angekündigt, sich von den Modellreigen A und B wieder zu trennen und sich auf die größeren Modelle zu konzentrieren. Dann werden die Nachfolger des Mercedes-Benz 190 wieder zum „Baby-Benz“.//