BMW-Motorräder ohne Boxer-Motor sind wie Bayern ohne Biergarten. Auch wenn sie mittlerweile nahezu allein auf weiter Flur sind, denken sie deshalb in München auch nicht im Traum daran, diese Tradition aufzugeben.
Not macht erfinderisch. Und die Not bei Franz-Josef Popp war groß. Denn Popp war Generaldirektor der Bayerischen Motorenwerke und musste sehen, wie es mit seiner Firma weitergehen sollte. Der Erste Weltkrieg war verloren und an den Bau von Flugzeugmotoren erst einmal nicht mehr zu denken. „Was machen wir? Wie soll es weitergehen?“ fragt er bei einer Ausfahrt 1919 verzweifelt seine Kollegen, und der junge Ingenieur Martin Stoll gibt ihm die passende Antwort: „Motorräder müssen gebaut werden, die reißt man uns aus der Hand!“ beschreibt Horst Mönnich in seinem Buch „BMW Eine deutsche Geschichte“ einen zentralen Wendepunkt in der Historie des damals noch jungen Unternehmens.
Stolle fährt damals selbst ein britisches Motorrad der Marke Douglas, baut zusammen mit dem eigentlichen Flugzeugingenieur Max Friz kurzerhand dessen Motor nach und übernimmt so auch die Boxer-Bauweise. Das Ergebnis ist ein Zweizylinder-Viertakter mit einem Hubraum von 486 cm³ und 6,5 PS bei 2800 U/min. Der Motor mit der bei BMW-Fans fast schon heiligen Bezeichnung M2B15 ist seitengesteuert durch eine über der Kurbelwelle platzierte Nockenwelle. Die Ventile werden direkt angetrieben. Der Ventiltrieb ist nicht gekapselt, so dass sich das Ventilspiel besonders leicht einstellen lässt. Ein außermittig angeordneter Vergaser versorgt beide Zylinder mit Luft-Kraftstoff-Gemisch und die Ölpumpe wird über Zahnrad und Schnecke von der Kurbelwelle angetrieben.
Der Motor kommt vom Start weg gut an: Als Stolle eine erste Testfahrt nach Nürnberg macht, muss er sogar mit dem Zug zurückfahren, weil die dortigen Victoria-Werke den Boxer gleich behalten. Das ist der Beginn einer einträglichen Lieferantenbeziehung und die einstige Fahrradfabrik in Franken wird zum wichtigsten Abnehmer.
Allerdings will sich BMW nicht allein mit der Motorenproduktion begnügen. Weil Victoria nur wenig später einen anderen Motor einkauft und weil Generaldirektor Popp irgendwie seine Fertigung füllen muss, beauftragt er Max Friz mit der Entwicklung eines eigenen Motorrades. Das wird als R32 im Oktober 1923 auf dem Pariser Salon der Öffentlichkeit vorgestellt.
Mit ihren 8,5 PS bei 3 300 U/min ist die Leistung zwar nur mittelmäßig, konnte aber mit einer Zuverlässigkeit punkten, die bis dato unerreicht war. Das mag auch an der neuartigen Konstruktion gelegen haben.
Denn erstmals hat BMW den Motor quer montiert, das Dreiganggetriebe angeflanscht und eine Kardanwelle zum Hinterrad gelegt. „Für den Boxer spricht damals eine ganze Menge“, sagt Fred Jakobs, der das BMW Archiv leitet: „Er war laufruhig, langlebig, leicht zu warten und obendrein leistungsstark. Nicht umsonst hat BMW in den 30er Jahren damit im Motorradsport alles gewonnen, was es zu gewinnen gab.“ Kein Wunder also, dass BMW dem Prinzip lange die Treue gehalten hat; selbst dann, als Reihen- und V-Motoren dem Boxer den Rang abzulaufen drohten. Denn die Laufruhe des Boxers mag über die Jahre unerreicht geblieben sein, und viele Biker schätzen den tiefen Schwerpunkt von Motorrädern mit Boxer-Antrieb. Doch Schadstoffgrenzwerte auf der einen und die Leistungsexplosion der Motoren vor allem aus Japan auf der anderen Seite machen dem traditionellen
BMW-Antrieb Ende der 1970er deshalb das Leben schwer. Kurz überlegen die Bayern deshalb schon das Ende des Boxers, berichtet Archivar Jakobs, werden von ihren Kunden aber eines Besseren belehrt: „Über der Jahre ist der Motor zu so einem charakteristischen Merkmal der Marke geworden, dass sie uns einen Abschied von dieser Technik nie verziehen hätten.“
Also nimmt BMW in den 1980ern eine Modernisierung in Angriff, entwickelt eine neue Generation und erfindet den Boxer 1993 Jahren noch einmal neu: 70 Jahre nach dem Erstling präsentieren sie mit der R 1100 RS einen Vierventil-Boxer mit allen technischen Finessen. Der 90 PS starke 1085 ccm-Motor hat eine elektronische Kraftstoffeinspritzung, eine im Zylinderkopf liegende Nockenwelle und einen Katalysator.
Das neue Gesamtkonzept wurde in den Folgejahren auf alle Boxer-Modelle einschließlich der neuen 850er-Varianten übertragen. Noch einmal ein Jahrzehnt später gibt es die nächste Revolution und BMW leistet 2004 in der RS 1200 GS Adventure mit einer wegweisenden Weiterentwicklung den nächsten Treueschwur für den Boxer: Statt mit Luft und Öl werden thermisch besonders kritische Bauteile nun mit einem Wasser/Glykolgemisch gekühlt. Der 1170 ccm große und 92 PS starke Motor selbst vertraut im Wesentlichen weiterhin auf Luftkühlung, so dass das typische Erscheinungsbild des Boxers erhalten bleibt. Im Gegensatz zu allen vorangegangenen Boxermotoren setzt die aktuelle Generation zudem auf eine Vertikaldurchströmung. Durch diese Änderung der Durchströmungsrichtung ergeben sich jetzt separate Ein- und Auslassnockenwellen.
Knapp 30 Jahre nach dem Start der zweiten Boxer-Generation leisten die BMW-Motoren mittlerweile bis zu 136 PS und BMW ist mit dem Prinzip voll und ganz im Reinen. Bei der Performance können sie im jeweiligen Segment längst wieder gut mit anderen Antriebskonzepten mithalten, Emissionen und Effizienz sind vorbildlich und wer partout in maximaler Schräglage die Kurve kratzen will, bekommt bei den Bayern ja auch Bikes mit schlank bauenden Reihenmotoren und dann teilweise mehr als 200PS. Doch für Modelle wie die GS oder die RT ist der Boxer eine Idealbesetzung, sagt Produktmanager Reiner Fings. Der beste Beweis dafür ist die neue R18, mit der die Bayern dem Boxer im letzten Jahr ein weiteres Denkmal gesetzt haben. Denn angetrieben wird das Motorrad von einem komplett neu entwickelter Zweizylinder, der zurecht als „Big Boxer“ geführt wird. Denn mit 1,8 Litern Hubraum ist er der größte Boxer-Motor, der je in einem Motorrad eingebaut wurde. Nicht nur mit seinem eindrucksvollen äußeren Erscheinungsbild, sondern auch in technischer Hinsicht knüpft der 91 PS starke Zweizylinder dabei an die traditionellen Triebwerke an, die seit Beginn der BMW Motorrad Fertigung im Jahre 1923 rund 70 Jahre lang bis zum Erscheinen des luft-/ölgekühlten Nachfolgers synonym für die Motorräder aus München standen: klar gezeichnete und im Sinne bester Zuverlässigkeit und Wartungsfreundlichkeit konstruierte Motoren, mit logisch angeordneter, aber gleichwohl leistungsfähiger Technik. Mit ohv-Ventiltrieb sowie separatem Motor- und Getriebegehäuse trägt deshalb auch der neue „Big Boxer“ die konstruktiven Merkmale, die bereits den ersten BMW Motorrad Boxermotor, damals noch mit seitengesteuerten Ventilen, auszeichneten. Was vor bald ziemlich genau 100 Jahren mit einer schmerzhaften Niederlage begonnen hat, hat sich für BMW deshalb längst zu einer ungeahnten Erfolgsgeschichte gewandelt. Seit Stolls Erstling haben die Bayern mittlerweile rund 2,23 Millionen Boxer-Motoren für ihre Zweiräder gebaut und in den Jahren 1950er und 1960er Jahren zwischendurch sogar mal über 200 000 Autos der Baureihen BMW 600 und 700 mit Boxern bestückt, die von den Motorrad-Aggregaten abgeleitet wurden. Selbst heute, wo der BMW-Zweizylinder neben dem Sechszylinder-Boxer der urgewaltigen Honda Goldwing allein auf weiter Flur ist, kommen die Boxer-Baureihen der Bayern noch immer auf einen Verkaufsanteil von etwa 50 Prozent. Und anders als beim Auto, wo sich mittlerweile viele Fahrer gar nicht mehr für ihren Motor interessieren und entsprechend selten unter die Haube schauen, kann man bei einem Motorrad auf den ersten Blick die Art des Antriebs erkennen. Deshalb denken sie in München auch nicht im Traum daran, den Boxer aus dem Ring zu nehmen, sagt Produktmanager Fings.
„Solange wir noch Motorräder mit Verbrennungsmotoren bauen, wird es bei uns auch weiterhin welche mit Boxermotor geben.“